Author Topic: Drogenpolitik: die Prohibition ist gescheitert  (Read 1747 times)

hellboy

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Re: Drogenpolitik: die Prohibition ist gescheitert
« on: 2015, 05, 18; 17:41:43 »
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Alternativer Drogen- und Suchtbericht
Herausgegeben von akzept e.V. Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitk, Deutsche AIDS-Hilfe e.V. und JES Bundesverband e.V.


Vorwort

Heino Stöver, Bernd Werse, Dirk Schäffer


Der erste Alternative Sucht- und Drogenbericht, der 2014 von den drei Bundesverbänden akzept e.V., Deutsche AIDS-Hilfe und JES e.V. herausgegeben wurde, hat für eine enorme Aufmerksamkeit in den Medien und der Fachöffentlichkeit gesorgt. Damit wurde deutlich, dass die Öffentlichkeit ein starkes Interesse an einer realitätsnahen und integrativen Drogenpolitik hat und eine Politik ablehnt, die größtenteils auf dem Wunsch basiert, dass es bestimmte Drogen gar nicht gäbe sowie politisch überwiegend mit Verboten und Kriminalisierung der Konsument_innen reagiert. Leider ist die Dro- genpolitik der Bundesregierung nach wie vor dadurch gekennzeichnet, dass sie essen- ziellen Kernforderungen einer Vielzahl von Fachverbänden, Drogenhilfeträger_innen und Expert_innen nach Einbezug evidenzbasierter Erkenntnisse und systematisierter, dokumentierter Praxiserfahrungen nicht nachkommt. Wir wissen in vielen Bereichen der Drogenpolitik relativ genau, was wirkt, was nicht und welche Nebenwirkungen mit bestimmten Politikstrategien verbunden sind.
Es fehlt der Drogenpolitik der Bundesregierung an strategischen, innovativen und substanzübergreifenden Konzepten sowie konsistenten Aktionsplänen. Wir erleben oft eine unausgewogene, z. T. populistische und kurzatmige Thematisierung der Folgen einzelner Drogen (z. B. Crystal Meth), während für den besseren Umgang mit den Volksdrogen Alkohol und Tabak wichtige verbraucherschützende Rahmenbedingungen nicht geschaffen werden.
Daher ist der nun vorliegende zweite Alternative Drogen- und Suchtbericht weiterhin ein dringend notwendiges Instrument, um eine zusammenfassende Gegenöffentlichkeit gegenüber den offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung zu schaffen: Der Ausgangspunkt jeglicher Drogenpolitik muss der Konsument bzw. die Konsumentin sein und zwar in der Ausbalancierung mit den gesellschaftlichen Bedingungen.
Ständig mit dem Drogenverbotshammer zu hantieren ist einerseits realitätsfremd (angesichts von Millionen von Menschen, die illegale Drogen konsumieren) und ande- rerseits angesichts weltweiter, jahrelanger Reformbemühungen, Alternativen zur Repression zu schaffen, anachronistisch.
Das Drogenverbot ignoriert auch, dass es „Drogenkulturen“ gibt, die den Gebrauch illegalisierter Drogen integriert haben und einen Konsum weitgehend ohne schädigende Nebenwirkungen pflegen (z. B. mit Cannabis oder Kokain). Darin deutet sich an, dass wir bei der Drogenpolitik auf mündige Bürger_innen zählen sollten sowie auf eine Kontrollstrategie, die auf glaubhafte Information anstatt auf undifferenzierte (und im Übrigen ineffektive) Ablehnung setzt. Bei HIV/AIDS ist das weitgehend gelungen, bei Tabak befinden wir uns noch im Lernprozess. Fakt ist, dass sich eine gesell- schaftliche Lernstrategie einer Kontrollstrategie als überlegen erwiesen hat. Belege werden in diesem Alternativen Drogen- und Suchtbericht zuhauf geliefert. Allen voran von jenen Polizeivertreter_innen, die offen gestehen, dass das Drogenverbot mit polizeilichen Mitteln weder jetzt noch in Zukunft durchgesetzt werden kann. Illegalisier- te Drogen werden die Gesellschaft begleiten – weil sie von bestimmten Menschen gegenüber den legalen psychoaktiven Substanzen Alkohol und Tabak präferiert wer- den. Im Übrigen – um dem bekannten prohibitionistischen Argument der „Verharmlosung“ entgegenzutreten – käme eine Entkriminalisierung auch jenen zugute, die intensive Konsummuster entwickelt haben: nicht nur durch den Wegfall teurer und sinnloser Strafmaßnahmen, sondern auch durch eine geringere Hemmschwelle, Hilfe aufzusuchen sowie die generell besseren Rahmenbedingungen für akzeptanzorientierte Hilfen.
Wir setzen auch in vielen anderen Bereichen des Lebens auf die Lernfähigkeit und Verhaltensänderungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen nur die Bedingungen dafür schaffen, dass die Menschen gesündere, informierte und schadensminimierende Entscheidungen treffen können, gemäß der WHO-Orientierung „make the healthy choice the easy choice“. Das Drogenverbot führt dazu, dass häufig die ungesunde Entscheidung die leichtere ist, z. B. wenn Drogenabhängige zur Spritze anstatt zur Folie greifen oder wenn der nicht kontrollierte Markt nur verunreinigte Substanzen im Angebot hat.
Ein sehr anschauliches Beispiel des Zustands der deutschen Drogenpolitik hat der Deutsche Bundestag am 5.11.2014 selbst geliefert: Es wurden zehn Expert_innen in seinen Gesundheitsausschuss zur Anhörung eingeladen, um über eine Eingabe der Fraktion der Linken und Bündnis90/Die Grünen zum Umgang mit Cannabis sowie die Notwendigkeit einer Neubewertung des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) zu beraten. Es handelte sich um einen Antrag, der den zentralen Vorschlag der im Jahr 2013 veröffentlichten Resolution deutscher Strafrechtsprofessor_innen aufnahm.1 Von den zehn Expert_innen forderten im Rahmen der erwähnten Anhörung neun eine Überprüfung des BtMG und damit eine überparteiliche Enquete-Kommission. Selbst die Expertinnen und Experten, die von CDU, CSU und SPD bestellt worden waren, haben – bis auf eine Ausnahme – dieser Forderung zugestimmt. Es scheint sich unter Fachleuten ein neuer Konsens zu bilden, der darin besteht, dass das BtMG nach wissenschaftlichen Kriterien neu beurteilt werden muss.
Letzteres ist auch ein Beleg dafür, wie sich in den letzten Jahren die Koordinaten der Fachwelt geändert haben: Nachdem die Forderung nach weitgehender Entkriminalisierung noch vor nicht allzu langer Zeit eine auf bestimmte Disziplinen beschränkte Minderheitenmeinung war, sprechen sich immer mehr Expert_innen aus sämtlichen relevanten Fachgebieten für diese aus. Dazu gehören neben Fachleuten aus Sozialwissenschaft, Pädagogik und Rechtswissenschaft z. B. auch solche aus der Praxis der Suchtbehandlung, Psychiatrie und Strafverfolgung. Beiträge von Expert_innen aus all diesen Bereichen sind im vorliegenden Bericht nachzulesen.

Abschließend sei an dieser Stelle auf einige aus unserer Sicht zentrale Themen ver- wiesen, die im diesjährigen Alternativen Drogen- und Suchtbericht zur Sprache kom- men:
• Das Phänomen der neuen psychoaktiven Substanzen (NPS) mit all ihren gefährli-
   chen Nebenwirkungen zeichnet sich immer stärker als Nebeneffekt der Prohibiti-
   on selbst ab.
• Noch immer existieren in Deutschland so weitgehende Werbemöglichkeiten für
   legale Drogen (Alkohol und Tabak) wie in kaum einem anderen europäischen
   Land.
• Drug Checking als Maßnahme zur Schadensminimierung wird angesichts giftiger
   Verunreinigungen und wilder Schwankungen von Wirkstoffgehalten in Ecstasy
   und Cannabis immer dringender erforderlich.
• Es stellt sich die Frage, ob die unter großem öffentlichem Druck angekündigte
   Neuregelung der Verwendung von Cannabis als Medizin ein für betroffene
   Patient_innen zufriedenstellendes Ergebnis hervorbringen wird.
• Die Abgabe medizinischer Kompetenz an Laien durch die Vergabe von Naloxon an Opiatkonsumierende ist in
   Deutschland überfällig, um in akuten Überdosierungs-
   situationen Leben zu retten.
• Drogenkonsumierende sind im Rahmen neoliberaler Stadtpolitiken der Verdrän-
   gung aus Innenstädten ausgesetzt. Auf diese Weise werden öffentliche Räume ohnehin marginalisierten
   Gesellschaftsgruppen weiter verschlossen.

Als übergreifende Konsequenz der betrachteten Problembereiche ergibt sich die Forderung nach einer Überarbeitung des BtMG, die die Konsumierenden und ihr gesundheitliches wie gesellschaftliches Wohlergehen in den Mittelpunkt rückt sowie eine informierte Selbstbestimmung des Konsums ermöglicht.

Frankfurt am Main, 17. Mai 2015

Zum pdf: http://alternativer-drogenbericht.de/wp-content/uploads/2015/05/Alternativer-Drogen-und-Suchtbericht-2015.pdf

Bericht in der Tagesschau: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-85651.html

Kein ernstzunehmender Experte ist noch für die Prohibition. Deshalb sind Politiker, die die noch für die Prohibition sind, auch nicht ernstzunehmen.

ahoy
hellboy
« Last Edit: 2015, 05, 18; 17:43:24 by hellboy »
Darwin was wrong.                   i'd rather be morally right
Man is still an ape.                   than politically correct!