Author Topic: verbindliche Online-Abstimmungen - Evolution der Briefwahl  (Read 10528 times)

hellboy

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Quote from: Stephan Eisel
Bürgermehrheit lehnt Online-Beteiligung ab

Neue Bertelsmann-Studie bestätigt „schlechte Bewertung“

Im zweiten Halbjahr 2013 befragte die Bertelsmann-Stiftung telefonisch 2.700 Bürger ab 18 Jahren aus 27 Städten und Gemeinden nach ihren bevorzugten kommunalen Beteiligungsformen. Dem wurde die Einschätzung von 680 Entscheidungsträgern aus diesen Kommunen gegenübergestellt. Die Er­gebnisse wurden im September 2014 unter dem Titel „Vielfältige Demokratie“ veröffentlicht.[1]

Unter allen Beteiligungsformen schnitt sowohl bei den Bürgern als auch bei den Entscheidungsträ­gern „Online-Beteiligung“ am deutlich schlechtesten ab und wurde in beiden Gruppen mit klarer Mehrheit abgelehnt. Dabei war die Einschätzung der befragten Bürger noch ablehnender als die der politischen Entscheidungsträger.

Die gestellte Frage lautete „Im Folgenden nenne ich Ihnen verschiedene Formen der Bürgerbeteili­gung. Bitte sagen Sie mir, wie Sie die jeweilige Form auf einer Skala von 1 = sehr gut bis 5 = sehr schlecht, bewerten?“

43 Prozent der befragten Bürger lehnten „Online-Beteiligung“ als sehr schlecht bzw. schlecht ab, nur 33 Prozent hielten sie für sehr gut oder gut. Zum Vergleich: Die Beteiligung an Gemeinderats­wahlen hielten 82 Prozent für sehr gut bzw. gut und nur 5 Prozent lehnten sie ab. Die Mitarbeit in Parteien stieß auf 65 Prozent Zustimmung und 12 Prozent Ablehnung.

Bei den politischen Entscheidungsträgern (Ratsmitglieder, Dezernenten und Bürgermeister) stieß Online-Beteiligung bei 36 Prozent auf Ablehnung und bei 29 Prozent auf Zustimmung.

 Diese eindeutige Ablehnung von „Online-Beteiligung“ ist umso bemerkenswerter als in fast einem Drittel der einbezogenen Kommunen (8 von 27) Online-Beteiligungsverfahren (meist als Online-Bürgerhaushalte) bereits durchgeführt worden waren.

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http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-CED45E4F-E5EB63FD/bst/xcms_bst_dms_40279_40280_2.pdf

Da ist noch einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten. Und an Vorarbeit, weil man der Bevölkerung keine unausgegorenen Lösungen präsentieren kann, und auch keine untauglichen wie liquid Feedback, das ja für verbindliche Entscheidungen nicht gedacht ist. Außerdem muß man die online-Beteiligung als das was sie ist präsentieren, nämlich als Option. So beantwortet sich auch die Frage von Punkt 4, wie die einzelnen Formen demokratischer Beteiligung miteinander zusammenhängen, von selbst.

Lösungen wie liquid Feedback und adhocracy sind kompliziert und für den Normalbürger undurchschaubar. Solche Formen der online-Beteiligung machen nur in Arbeitsgruppen und themenspezifischen taskforces Sinn, wo sich Experten und an den Themen wirklich Interessierte damit die Arbeit erleichtern können. Sie können unabhängig von Zeit und Ort, also ohne sich ständig irgendwo zu einen bestimmten Termin koordiniert versammeln zu müssen Vorschläge erarbeiten, wobei es die Möglichkeit für Laien und Tüftler gibt, unkonventionelle Lösungsvorschläge und praxisorientierte Kritik einzubringen. Dazu braucht es aber Strukturen. Deliberativ kann und darf nicht heißen, daß alle immer unbegrenzt ihren Senf dazu geben können, daran scheitert jede zielgerichtete Sachkommunikation. Die erzielten Ergebnisse können dann gegeneinander abgestimmt werden. Daß alle irgendwas zur Abstimmung bringen können, führt zur thematischen Inflation und damit letztlich zu Desinteresse. Daran scheitern Lösungen wie liquid Feedback. Die Möglichkeit zu delegieren hat sich letztendlich als völlig untauglich herausgestellt. Einmal seine Stimme zu delegieren ist keine Beteiligung, sondern genau das, was bei der herkömmlichen repräsentativen Demokratie auch passiert. Wenn Systeme zu kompliziert sind, können sie garnicht deliberativ sein.

Entscheidend ist auch, daß es online mehr Möglichkeiten gibt, zu konsensualen Entscheidungen zu kommen. Solange weiterhin nur gegensätzliche Positionen gegeneinander abgestimmt werden, führen neue Technologien zu keinen Verbesserungen, und ihr wahres Potential wird ignoriert. Dann ist es kein Wunder, wenn Beteiligung nur als Showevent wahrgenommen wird.

Interessant wäre die Frage gewesen, für wieviele Wahlberechtigte eine online-Briefwahl im Vergleich zur herkömmlichen Briefwahl eine Option wäre. Zumindest im Bezug auf das hier vorgeschlagene System. Was die Befragten sich überhaupt unter online-Beteiligung vorstellen, ist auch etwas, was die Umfrage leider nicht erhebt. Es ist nur von "Mitarbeit in Beiräten" die Rede, aber dort wird nicht die online-Mitarbeit bei solchen Beiräten als Option abgefragt, sondern die Mitarbeit in Beiräten der online-Beteiligung ohne nähere Spezifizierung gegenübergestellt. Leute die sich bei den Piraten zB im alten Bundesforum der ppat beteiligt haben, waren davon wohl recht angetan, sonst wären die Userzahlen nicht stetig gestiegen. Erst der Einzug von Zensur und Meinungsgleichschaltung hat fast alle wieder vertrieben. Foren und ähnliche Systeme, bei denen die Informationen in beide Richtungen fließen, bieten die wenigsten Organisationen überhaupt an, und wenn dann streng moderiert, was von der Beteiligung offenbar extrem abschreckt. Die Menschen wollen ehrliche und vollumfängliche Informationen bevor sie entscheiden. Wenn es im Vorfeld von Entscheidungen nur Propaganda und hohle Slogans gibt, ist den Leuten offensichtlich auch klar, daß sie keine fundierte Entscheidung treffen können. Von den Entscheidungsträgern der repräsentativen Gremien ist das auch so beabsichtigt. Daß die Bürger das merken zeigt sich auch an dem geringen Vertrauen in die politischen Institutionen und Akteure. (Punkt 6)

Ob sich die geneigte Wählerschaft für online-Beteiligung erwärmen kann hängt also vor allem vom Angebot ab, und das ist derzeit leider eher bescheiden. Die Piraten bleiben jedenfalls trotzdem dem Internet treu. Online-Beteiligung beschränkt sich nämlich nicht auf Abstimmungssysteme, sondern ist vor allem die Möglichkeit sich dezentral zu informieren und einzubringen. Und daß die Menschen mehr direkte Demokratie, also viel öfter mal gefragt werden wollen, zeigt die Studie ja auch. Dazu würde es schon genügen, nicht nur über die Parteien die regieren, sondern auch zentrale Punkte der jeweiligen Programme gegeneinander abstimmen zu lassen. Die Befragung zeigt eindeutig, daß die Leute gefragt werden wollen, und wenn sie online antworten könnten, würden sie das bestimmt annehmen, wenn es so einfach wie oder noch einfacher wäre als Briefwahl. Solange die Entscheidungen der Bürgerbeteiligung aber nicht verbindlich sind, oder wie in Bayern nur für ein Jahr, fühlen sich die Bürger zurecht veräppelt, und finden direkte Beteiligung entsprechend sinnlos.

ahoy
hellboy
« Last Edit: 2015, 06, 09; 16:26:15 by hellboy »
Darwin was wrong.                   i'd rather be morally right
Man is still an ape.                   than politically correct!