Author Topic: Die Entdeckung der Privatsphäre  (Read 618 times)

hellboy

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Re: Die Entdeckung der Privatsphäre
« on: 2014, 06, 30; 19:54:59 »
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Die Kultur der Selbstentdeckung

Das schliesslich ruiniert den öffentlichen Raum. Wer alle sozialen Rollen und Masken als «gespielt» oder «unecht» ablehnt und überall «authentisch» sich selber sein will, der weicht in seinem Beharren auf permanenter Privatheit die Trennung öffentlich/privat auf. Masken, schreibt Sennett, sind wichtig für unser soziales Sein: «Wearing a mask is the essence of civility. Masks permit pure sociability, detached from the circumstances of power, malaise, and private feeling of those who wear them.» Die Zurückhaltung des Privaten im öffentlichen Raum schafft Raum für gesellschaftlichen Austausch.

Die Kultur der Selbstentdeckung und -darstellung wendet sich üblicherweise gegen die Kälte und Anonymität der modernen Gesellschaft. Wenn wir alle mehr uns selber wären, wäre die Welt ein besserer Ort. Doch wenn wir Gemeinschaft mit radikaler Selbstentblössung verwechseln, dann wendet sich dies meist in erster Linie gegen Nichtentblösser und Verdeckte. Selbstdarstellung führt zur Geringschätzung der Gesellschaft von Fremden. Wer nicht singt und tanzt, wird übersehen, wer sich nicht zu erkennen gibt, macht sich verdächtig. Rituale unter Fremden gehen verloren.

Die «Tyrannei der Intimität» löscht also durch die Ausdehnung des Privaten auch gewisse Sphären des Sozialen. Dabei verbindet sich Selbstdarstellung erstaunlich vielfältig mit Angst. Es ist absolut möglich, der ganzen Welt seine geheimsten Vorlieben aufzulisten ohne auch nur einen Fuss in die besagte Welt zu setzen. Soziale Online-Netzwerke wie Facebook und Myspace erhöhen nicht notwendigerweise eine gelebte Nähe. Über Internet-Partnerbörsen und Blogs können durchaus Parteien zueinanderfinden, die sich seit Jahren nicht mehr aus ihren schwer bewachten Gated Communities herausgetraut haben.

Mediales und politisches Dauerthema Sicherheit

Angst ist eine zentrale Schaltkraft der westlichen Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert. Dies, obwohl oder gerade weil Kriminalität, Gewalt und Bedrohung im Abendland auf einem historischen Tiefstand sind. Verglichen mit der mittelalterlichen Gesellschaft oder nur schon dem 19. Jahrhundert sind viele Bedrohungen aus unserer Gesellschaft verschwunden. Sicherheit ist dennoch ein mediales und politisches Dauerthema.

Die Kultur der Angst hat Konsequenzen auf den öffentlichen Raum. Gastfreundschaft gegenüber Fremden und Autostopp sind vor gar nicht langer Zeit in den meisten Gegenden Europas ausgestorben. Die Angstkultur treibt gleichzeitig die Durchleuchtung des Privaten (Überwachung, Registrierung), aber auch seine erneute Verteidigung an. Weltweit etwa ziehen sich Wohlhabende und Verunsicherte in privat geschützte Wohnanlagen zurück, Gated Communities, deren Abgeschottetheit so weitreichend ist, dass sich Staatsrechtler bereits um deren potenziell staatsfeindlichen Charakter Gedanken machen. 

Gated Communities finden sich im Westen, aber auch in China, in weiten Teilen Lateinamerikas und den Staaten der früheren Sowjetunion. Längst existiert ein Wust von Fachliteratur zum Thema. Die modernen Festungen werden beleuchtet von soziologischer, architektonischer und geografischer Warte. Die neuen Schlagwörter sind «Security Landscapes», «Enclosure», aber auch «Ghettoisierung». Selbst als «Diaspora» hat man die weissen Vororte Amerikas bezeichnet und dabei versucht, etwas von den historischen Konnotationen des Diasporabegriffs (Trauma, Vertreibung, Exil, Anspruch auf Rückkehr) einzufangen.

Die kommerzielle Nutzbarkeit der Angst

In der realen Geografie verschärft die Angstkultur die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum. Familie, Partnerschaft und Freundeskreis ziehen sich nach finanzieller Möglichkeit in neomittelalterliche Burgen und Fluchträume zurück, die Strasse wird freigegeben für absolute Durchleuchtung und verwandelt in eine konstante Flughafensicherheitskontrolle, in der relativ enge Spielwege definiert sind. Ausserhalb des Hauses ist Privatsphäre störend und gefährlich, die Strasse wird zum Korridor der Pendler. 

Der Rückzug in den Fluchtraum kostet Geld. Angst ist ein Geschäft. Der Soziologe Barry Glassner hält die kommerzielle Nutzbarkeit von Angst für die Hauptursache der so weit verbreiteten Sicherheitsbedürfnisse: «The true reason why Americans harbor so many misbegotten fears is that immense power and money await those who tap into our moral insecurities…»

Privatheit wird vermehrt zum Privileg. Nicht ein Grundrecht, sondern eine Zusatzleistung. Bei der Schweizerischen Post kostet eine Umzugsmeldung mehr, wenn man wünscht, dass die neue Adresse nicht an Dritte weitergegeben werden darf. In den USA engagieren die Eltern von Schulabgängern professionelle Reputations-Reparatur-Services, die gegen Entgelt belastendes Bild- und Informationsmaterial der Sprösslinge aus dem Internet entfernen. Ein Ausmerzen der digitalen Spur.

Doch selbst die Superreichen kämpfen bereits um wirklich «privates» Eigentum. Weil die Zahl der Wohlhabenden wächst, wird der Exklusivraum knapp. Beim Kauf von Chalets in beliebten Wintersportdestinationen und beim Fliegen mit Privatjet wird geteiltes Eigentum und Teilzeitnutzung Standard. Und wenn das einsame Jagdschloss plötzlich auf Google Earth einzusehen ist, wird es finanziell aufwendig, sich dem öffentlichen Raum zu entziehen. Wer Privatsphäre will, der muss bezahlen.

Privatheit als Anachronismus?

Kritik an Privatheit beruhte immer wieder auch auf dem Vorwurf des Egoismus und der Verantwortungslosigkeit. Dass das lateinische privare auch «berauben» bedeuten kann, ist nie vergessen worden. Hannah Arendt bemerkt: «Nur ein Privatleben führen, heisst in erster Linie, in einem Zustand leben, in dem man bestimmter, wesentlicher menschlicher Dinge beraubt ist. …Der private Charakter liegt in der Abwesenheit von anderen; was diese anderen betrifft, so tritt der Privatmensch nicht in Erscheinung, und es ist als gäbe es ihn gar nicht.»

Noch im mittelalterlichen Latein ist der privatus auch «der Egoist, der sich um die andern nicht kümmert». Karl Marx kritisierte die «Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen» und verstand Privatheit als gesellschaftsfeindlich. Das 1968er-Credo «Eigentum ist Diebstahl» knüpfte an diese Lesart an. Aber auch in totalitären Systemen, in Nazi-Deutschland und in der Sowjetunion, wurde der Rückzug ins Private (Bürgerliche) immer wieder als Verrat an Staat und Allgemeinheit gesehen.

In neuester Zeit wird Privatheit wieder vermehrt als Euphemismus für Gesellschaftsmüdigkeit interpretiert. Um Sicherheit und Allgemeinwohl bemühte Politiker und Theoretiker kritisieren scheinbar übertrieben eingeforderte Privatheit als ein «antisoziales» Konzept, das mit anderen wichtigen Werten der Gesellschaft kollidiere, namentlich mit dem Schutz von Privateigentum, effizienter Bürokratie, Kriminalitätsvorbeugung und -bestrafung. Das Beharren auf Schutz vor Überwachung wird als antiquierte und die Allgemeinheit gefährdende Kompliziertheit abgetan.

Wird Privatheit zum Anachronismus? Technologische Innovationsschübe und politische Verschiebungen stellen das Recht auf Geheimhaltung an immer neuen Stellen in Frage. Unsere Einkäufe und Interessen bleiben in digitalen Speichernetzen hängen, der liberale Grundsatz «in dubio pro reo» wandelt sich in der Angstgesellschaft zu «wer nicht schuldig ist, der zeige es». Ist das Ideal der Privatheit nicht mehr zeitgemäss? Bereits 1964 fragte die US-Autorin Myron Brenton in ihrem Buch «The Privacy Invaders»:
Wird in ein paar Generationen die automatisierte Gesellschaft Privatheit mit derselben amüsierten Nostalgie betrachtet, die wir heute etwa für die aufwendigen Tischsitten des 18. Jahrhunderts bereithalten?

Wer auf Privatheit pochen will, muss sich entmodernisieren, vom Internet abkabeln, das Mobiltelefon wegwerfen, und gerät so zwangsläufig in die Rolle des Aussteigers. Aber wie steigt es sich heute noch aus? Ein aktuelles Handbuch des Verschwindens müsste her. Selbst die Gesichtsoperation ist nichts mehr wert, wenn die DNA alles verrät. Man muss von jenen Meeresbiologen lernen, die nicht mehr in die USA einreisen dürfen, weil ihnen Korallen die Fingerabdrücke wegradiert haben. Oder von Science-Fiction-Filmen wie «Minority Report» (2002), wo die mit einem Kunstauge überzogene Iris den Überwachungsapparat täuscht.

Avatare und Alter Egos

Eine weitere Zukunftsvision zur Privatheit liefert der Film «Surrogates» (2009). Statt sich selber mit dem eigenem Gesicht und Körper in die Öffentlichkeit zu wagen, bleiben die Menschen daheim und steuern von dort aus gutaussehende robotische Avatare durch den Alltag. Physisches Leid und Kriminalität sind so gut wie inexistent in dieser Welt. Das nach den eigenen Wunschvorstellungen modellierte Alter Ego schützt das wahre Selbst durch eine ständig gehaltene Distanz, einen konstanten Sicherheitsabstand zur Welt.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Es wird klar, dass Privatheit zu grossen Teilen ein Wert der Moderne ist und dass die Grenzen zwischen «privat» und «öffentlich» noch im 16. und 17. Jahrhundert ganz anders verliefen. Je nach politischem Kontext und technischem Innovationsschub wird Privatheit anders interpretiert und diskutiert. Dieser historisch-technische Kontext ist meist kein globaler. Was an einem Ort öffentlich ist, kann anderswo Privatsache sein. Privatheit ist ein kulturspezifisches Konzept. Neben technischer Innovation verändern auch kulturelle Entwicklungen das Verständnis von Privatheit.

von da: http://www.gdi.ch/de/Think-Tank/Trend-News/Detail-Page/Die-Entdeckung-der-Privatsphaere

lang, aber gut.

ahoy
hellboy
« Last Edit: 2014, 06, 30; 20:01:19 by hellboy »
Darwin was wrong.                   i'd rather be morally right
Man is still an ape.                   than politically correct!