« on: 2014, 06, 30; 19:52:29 »
der wissenschaftliche ansatz:
Die Entdeckung der Privatsphäre
NSA, Heartbleed: Kein Tag vergeht, ohne dass wir über Transparenz im digitalen Zeitalter reden. Dabei geht vergessen, dass die Privatsphäre eine kulturelle Erfindung ist und bis vor kurzem so gross war wie noch nie, wie eine GDI-Studie zeigt.
Dieser Text entstammt der GDI-Studie «Das Zeitalter der Trasparenz» (2011).
Unsere Privatsphäre verändert sich, und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen verschwindet sie, verkleinern sich jene Zonen, die nur uns gehören, auf die andere keinen Zugriff haben. Die Fingerabdrucknahme am Flughafen, die Videoüberwachung im öffentlichen Raum, die im Internet und beim Einkaufen hinterlassenen Datenspuren erschweren uns die Geheimhaltung persönlicher Informationen und Bewegungen. Die Preisgabe von Privatem scheint der Preis für Sicherheit in einer gefährlichen Welt sowie für Nutzerkomfort dank technischer Innovation.
Gleichzeitig aber dehnt sich die Privatheit aus. Öffentliche und private Medienkanäle werden geflutet mit Intimem und Persönlichem. Die Dauerpräsenz von Privatem im öffentlichen Raum, in Reality-Fernsehformaten, auf Online-Videoplattformen oder, altmodisch, in Klatschheftchen, lässt manche Zeitzeugen von einer «Tyrannei der Intimität» sprechen.
Zweifellos befruchten sich diese beiden scheinbar gegensätzlichen Entwicklungen: Je mehr Intimes in der Öffentlichkeit verhandelt wird, desto kleiner werden die Räume, in welchen Privatheit tatsächlich gilt und respektiert wird. Es ist die Grenzziehung zwischen privatem und öffentlichem Raum, die sich verändert und verwischt.
Weltweiter Schutz – auf Papier
Die Ausdünnung der Privatheit ist eine beklagenswerte Entwicklung. Dies findet die überwiegende Mehrheit der Juristen, Philosophen, Bürgerrechtler, Medienwissenschaftler, Informatiker, Soziologen und Politiker, die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Privaten befassen. So sehr sie sich im Detail uneins sind über eine Definition der Privatheit und die Lebensbereiche, die privat sein sollten, so einig sind sie sich in ihrem Grundbefund: Das Private ist ein Grundrecht, ein gefährdetes Gut, ohne das unser Leben an Qualität und Gehalt verlöre. «Die Privatheit ist eine unaufgebbare Grundlage für Autonomie und Selbstbestimmung moderner Individuen», schreibt der deutsche Medienwissenschaftler Ralph Weiss.
Auf Papier geniesst Privatheit denn auch fast weltweiten Schutz. Die Europäische Konvention der Menschenrechte von 1950 schützt das Recht auf Privatheit in Artikel 8: «Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.» In zahlreichen Nationen ist das Recht auf Privatheit explizit in der Verfassung aufgeführt, so etwa in Brasilien (Art. 5), Korea (Art. 17), Südafrika (§14/ 1996) und in der Schweiz (Art. 13 der Bundesverfassung). In den USA wird ein Recht auf Privatheit aus dem «Fourth Amendment» der Verfassung hergeleitet. Der US-Richter Louis Brandeis nannte es 1928 «das nachvollziehbarste aller Rechte und das von zivilisierten Menschen am meisten geschätzte Recht».
Wer entscheidet, was privat ist?
Mit der Verteidigung und Neuformulierung dieses Rechts befasst sich heute eine Vielzahl von Geistesarbeitern und Praktikern. Nichtregierungsorganisationen und staatliche Datenschutzbeauftragte führen Buch über Gefährdungen und Verletzungen der Privatheit. Ihr Interesse gilt dem Bürger und Verbraucher, den es gegen übereifrige Staatsorgane und kommerzielle Unternehmen zu schützen gilt. Spezialisierte Fachzeitschriften (wie «Surveillance and Society») und Forschungszentren befassen sich ausschliesslich mit Fragen der Privatsphäre und ihrer Ausleuchtung. Viele mit der Technikgesellschaft befasste Forscher kehren immer wieder zu Fragen der Privatheit zurück. Und selbstverständlich ist die Erhöhung von Privatheit (mittels Sichtschutzwänden und virtuellen Brandmauern) längst ein eigener Wirtschaftszweig, der besorgten Konsumenten Hilfe in Form von «Privacy Enhancing Technologies» anbietet.
Was aber beinhaltet die Privatheit, von der alle reden, die alle schützen und bewahren möchten? Wer entscheidet, was privat ist oder sein soll? Was kann die Allgemeinheit einfordern, wie viel darf ich verbergen? Welche Lebensbereiche schützt ein Recht auf Privatheit? Der Begriff des Privaten ist, so scheint es, unterbestimmt. Der Rechtswissenschaftler Daniel Solove schreibt, dass das Recht auf Privatheit heute sehr viel Verschiedenes bedeuten kann: «Meinungsfreiheit, Kontrolle über den eigenen Körper, Ungestörtheit am Wohnort, Kontrolle über persönliche Informationen, Schutz vor Überwachung, Schutz der eigenen Reputation und Schutz vor Durchsuchungen und Befragungen.» Privatheit ist ein erstaunlich vager Begriff.
Öffentliche Hochzeitsnacht und Recht auf Privatsphäre
Die Privatsphäre, deren Verschwinden heute so oft beklagt wird, ist ein Ideal der Moderne. In der Antike und im Mittelalter war die Überzeugung, dem Menschen stünde ein abgetrennter Raum für Eigenes zu, nicht in der heutigen Form vorhanden.
Die Vormoderne war bestimmt von der «Sozietalität der Strasse», einer das Leben vielfältig durchdringenden Öffentlichkeit, wie der Historiker Philippe Ariès gezeigt hat. Erst zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zog sich diese Sphäre des Austauschs in die inneren Kreise der Familie, der Clubs und Freundschaften zurück.
Das Wort «privat» (lat. privatus) war, wie auch «öffentlich» (publicus), natürlich bereits in der Antike in Gebrauch. Es ist abgeleitet von privare (absondern, herausnehmen, lösen, und auch: berauben) und bezeichnete bei den Lateinern einen Mann, der kein politisches Amt innehatte, der des Amtes «beraubt» war. Als Julius Caesar im Jahre 50 v.Chr. vom Senat aufgefordert wurde, sein Amt als Prokonsul in Gallien abzugeben und sich wegen diverser Unregelmässigkeiten vor Gericht zu verantworten, da wollte man ihn allein und als «Privatmann», also ohne ein Immunität spendendes Amt nach Rom zurückkehren sehen. Caesar zog es vor, den Rubikon mit Waffen zu überschreiten und einen Bürgerkrieg zu entfachen. Von Anfang an wird privatus im römischen Recht auch in der Verbindung mit Eigentum verwendet.
Auch in der deutschen Sprache bedeutet Privatheit zunächst Amtslosigkeit. Bei Martin Luther ist privat «der gemeine Mann, der in keinem Amt ist». «Privat» gelangt erst im 16. Jahrhundert als Renaissance-Import ins Deutsche, als Synonym für «sunder».
Kein Stellenwert in der Antike
Was die antike Privatheit nicht bezeichnet, ist die von der Öffentlichkeit abgesonderte Sphäre, die uns heute so am Herzen liegt. Im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. agierte der Bürger «in nahezu seinem gesamten Tätigkeitsspektrum mehr oder minder öffentlich». Das schlug sich in der Architektur nieder; die Villen der Bürger wurden halboffen, extrovertiert gestaltet. Die Öffentlichkeit war die Sphäre der Repräsentation und der Statusfestigung. Die Sphäre der privaten, häuslichen Produktion war geprägt von Arbeit, Monotonie und Mühsal, im Öffentlichen aber agierte und lebte der Bürger.
Moderne Privatheit hatte keinen Stellenwert in der Antike. Niemand forderte, die Allgemeinheit müsse individuelle Verwirklichung ermöglichen. Im Gegenteil, die Allgemeinheit hatte Anspruch auf die Individuen und selbst auf die Unversehrtheit ihrer waffenfähigen Körper. Physische Gesundheit war keine Privatsache, sondern Belang der res publica. «Alles private Handeln, darunter sogar Fragen der Art, welche Beschäftigung oder Ehepartner die Bürger wählten, wie sie ihre Kinder erzogen oder was für ein Geschirr auf dem Tisch stand, konnte grundsätzlich Gegenstand ernsthafter öffentlicher Prüfung und Kontrolle sein.»
Natürlich kannte auch die Vormoderne Zonen des Tabus, der Scham, der Nichtöffentlichkeit. Als der Philosoph Diogenes von Sinope im 4. Jahrhundert v. Chr. auf dem Athener Marktplatz onanierte, erregte dies öffentlichen Ärger. Dass die Latrine im Mittelalter auch privata genannt wurde, gibt Auskunft über die Gesondertheit des Toilettengangs. Manches damals Nichtöffentliche findet bei uns heute öffentlich statt: In vielen vormodernen Gesellschaften galt es etwa als unhöflich, im Beisein von Leuten zu essen, die selber nicht assen.
Unsere offenherzigen Vorfahren
In vielerlei Hinsicht aber sahen die Menschen der Vormoderne mehr voneinander als heutige Menschen. Auch im europäischen Mittelalter spielten sich zahlreiche Alltagshandlungen im Öffentlichen ab, wie Norbert Elias in seinem Standardwerk zur Zivilisierung der Affekte aufgezeigt hat. Viele Bereiche des körperlichen Lebens, der Nacktheit und des Todes fanden unversteckt statt. In einer berühmt gewordenen Passage beschreibt Elias, wie eine mittelalterliche Hochzeitsgesellschaft das Brautpaar in der Hochzeitsnacht kollektiv entkleidet und zu Bett bringt. Hinrichtungen auf öffentlichen Plätzen waren Spektakel, wo auch die Kinder nicht fehlen durften.
Insgesamt war das vormoderne Leben viel stärker als heute geprägt von Institutionen, etwa Kirche und Hof. Die einzelne Existenz war eingebettet, ein von der Gesellschaft losgelöstes Sein schlecht denkbar. Aber auch die Beziehung zum eigenen und fremden Körper war offenherziger, als wir es uns heute gewohnt sind. Manche Männer des 16. Jahrhunderts umhüllten ihr Geschlechtsteil mit modischen Futteralen, die eine Erektion simulierten. Diskretion in erotischen Abenteuern war für Männer vor Mitte des 18. Jahrhunderts kein Thema – ausser die Frau war verheiratet und der Ehemann von vergleichbarem Stand.
Behausungen waren kollektive, verborgene Winkel rarer. Bestenfalls der Raum zwischen Bett und Wand (französisch «ruelle») galt als Ort der Intimität. Ernst Schubert schreibt: «Im Unterschied zum 18. Jahrhundert und zu heute konnte das Mittelalter einen Gegensatz von privat und öffentlich kaum kennen. Ein ‹Privatleben› musste einer Welt fremd bleiben, in deren Häusern es keine Räume gab, in die man sich zurückziehen konnte.» Der Rückzug fand in Räumen statt, die uns heute als eher öffentlich erscheinen: Eine dunkle Gasse oder der Wald boten «Leerzonen und Freiräume», in die man wegtauchen konnte.
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« Last Edit: 2014, 06, 30; 19:56:30 by hellboy »
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Darwin was wrong. i'd rather be morally right
Man is still an ape. than politically correct!